CHRIST-Gastkommentar: Deutschland braucht eine große Erzählung
Liebe Seniorinnen, liebe Senioren,
diese Gedanken des FDP-Schatzmeisters Harald Christ anlässlich seines 50. Geburtstags nehmen die Haltung des Bundesvorstands der Liberalen Senioren auf, die wir auf vielen Sitzungen diskutiert und eingenommen haben. Wir sind dankbar für die klaren Worte und die Forderung nach mehr Wahrhaftigkeit in der Politik – ein Wert, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Ich empfehle diesen Kommentar Ihrer besonderen Aufmerksamkeit.
Detlef Parr
Bundesvorsitzender Liberale Senioren
02.02.2022 Deutschland braucht eine große Erzählung
Der FDP-Bundesschatzmeister Harald Christ schrieb für das „Handelsblatt“ und für „Handelsblatt Online“ (Mittwoch-Ausgabe) den folgenden Gastkommentar:
Es gibt in unserer von hektischem Denken und Tun geprägten Zeit nur selten Momente, die ein Innehalten gebieten - und den Blick auf die Gegenwart durch das Weitwinkelobjektiv eigener Erfahrungen und Erlebnisse ermöglichen. Runde Geburtstage können ein solcher Anlass sein, über das Private hinaus das große Ganze zu betrachten, Defizite zu benennen und Perspektiven zu beschreiben. An diesem Donnerstag werde ich 50 Jahre alt. Die zweite Halbzeit ist angepfiffen. Wie also steht das Spiel? Wie kann, sollte und wird es weitergehen - gesellschaftlich, politisch und ökonomisch? Anders gefragt: Quo vadis, Deutschland?
Die Suche nach Antworten ist derzeit umso schwieriger, als die Pandemie seit etwa zwei Jahren wie Mehltau jeden langfristigen Diskurs infiziert. Schon häufig ist - auch an dieser Stelle - aus berufener Feder darüber geschrieben worden, dass die Coronakatastrophe wie unter einem Brennglas vergrößert Defizite und Defekte offengelegt hat, die zuvor nur virulent waren. Die Klagen über mangelnde Digitalisierung, Bedrohung des Welthandels durch fragile Lieferketten und ungenügende Fokussierung der Ressourcen im Bildungsbereich sind natürlich berechtigt. Sie müssen hier nicht erneut vorgetragen werden.
Wichtiger ist das ebenso notwendige wie schmerzhafte Eingeständnis: Hinter all dem steht eine Entwicklung, die sich bereits seit zwei Jahrzehnten abzeichnet. Deutschland und Europa verlieren in vielen wichtigen Feldern sehenden Auges den Anschluss an globale Trends - teils aus Bequemlichkeit, teils aber auch wegen des Versagens von Eliten. Dazu drei Beispiele.
Als sich vor fast 22 Jahren drei Konzerne aus Frankreich, Deutschland und Spanien zur Unternehmensgruppe EADS zusammenschlossen, stand hinter dem Schritt vor allem die Einsicht: Nur eine gemeinsame europäische Luft- und Raumfahrtindustrie hat Chancen auf einem globalen Markt, der bis dahin von US-Konzernen dominiert wurde. Die Rechnung ging auf, heute ist Airbus weltweit einer der drei großen Branchenplayer.
Und wo stünde die deutsche und europäische Luftfahrtindustrie heute, wäre es nicht zu dem Zusammenschluss gekommen? Es gäbe sie vermutlich nicht mehr. Das Know-how wäre in einem gigantischen Braindrain über den Atlantik gezogen. Europa stünde im Flugzeugbau exakt dort, wohin andere Branchen sich gerade aufmachen: im Abseits. Bestes Beispiel hierfür ist der Bereich digitale Infrastruktur.
In meinem Alter erinnern sich noch manche an die einst trendigen Handys von Nokia oder Siemens oder den Aufbau der ersten Mobilfunknetze in den 1990er-Jahren. Von diesem technologischen Vorsprung ist so gut wie nichts geblieben. Anschluss verpasst, Know-how verloren. Ohne Unterstützung aus Asien ist die flächendeckende Etablierung des dringend notwendigen 5G-Netzes Illusion. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen: Auch der nächste Schritt der digitalen Entwicklung wird ohne unser Zutun stattfinden.
Wohl noch fataler ist ein weiterer Trend, der in der Pandemie schlaglichtartig zum Vorschein kam: eine gesellschaftliche Fragmentierung und Spaltung, die es zunehmend schwieriger macht, in wichtigen Fragen einen Konsens zu finden. Nicht zuletzt die Macht der sozialen Medien ermöglicht es immer kleineren Gruppen, ihre individuellen Interessen als maßgeblich zu definieren - oftmals ohne jede Rücksicht auf Vernunft und Logik.
Wenn etwa Debatten über politisch korrekte Sprache jede sachliche Auseinandersetzung mit den berechtigten Ansprüchen von Minderheiten überdecken, ist das ein untrügliches Symptom für eine fehlgeleitete Entwicklung. Wenn sich Gerichte allen Ernstes mit der Frage beschäftigen müssen, ob ungeimpfte AfD-Bundestagsabgeordnete das Recht haben, sich im Plenarsaal des Deutschen Bundestags neben geimpfte Parlamentarier zu setzen, beweist das, wie tief das Gift des Spaltpilzes bereits in den politischen Diskurs eingedrungen ist.
Und wenn in einem bayerischen Dorf in diesem Jahr keine Sternsinger von Haus zu Haus gezogen sind, weil Impfgegner mit Flugblättern warnten, das „C+M+B“ am Türsturz sei eine geheime Markierung zur Identifizierung Ungeimpfter, dann ist das mehr als eine lokale Posse. Es ist ein allgemeines Alarmsignal. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zur zentralen Herausforderung erklärt und damit - unausgesprochen - der Sorge Ausdruck gegeben, dass eine weitgehend fragmentierte Gesellschaft ihre Resistenz gegen autoritäre oder esoterische Infektionen verlieren könnte.
Um dem zu begegnen, bedarf es dringend einer großen Erzählung, in der sich eine breite Mehrheit der Menschen in unserem Land wiedererkennt - so wie in den Jahren des Wiederaufbaus oder, wenn auch nur kurz, in den Wendejahren 1989/90. Teil dieses Narrativs, damit bin ich beim dritten Punkt, ist die Definition der Rolle, die Deutschland in Europa und darüber hinaus spielen kann und will.
Das Fehlen einer schlüssigen und konsequenten strategischen Position gegenüber China sowie, derzeit besonders heikel, Russland kann nur so lange camoufliert werden, wie die deutsche Wirtschaft jene Potenz ausgleichend in die Waagschale werfen kann, die der klassischen Außenpolitik in den vergangenen Jahren zunehmend abhandengekommen ist. Das stößt jedoch auf immer größere Widerstände. Wenn beispielsweise China die deutschen Hersteller bei Entwicklung und Produktion von Elektromobilität nicht nur ein-, sondern auch überholt, schwächt das unsere Position ebenso wie die zunehmend emotionale Diskussion über die Lage der Menschenrechte im Reich der Mitte.
Hier wie dort müssen wir uns ehrlich machen: Was ist jenseits aller diplomatischen Rhetorik der deutsche Standpunkt? Und wie kann dieser Standpunkt gemeinsam mit den Partnern in Europa und den USA zu einem schlüssigen Gesamtkonzept weiterentwickelt werden? Bisher beschränkt sich die deutsche Haltung vor allem auf reaktives Verhalten - mit dem Ergebnis, dass kaum kreative Impulse entstehen. Dabei kann Deutschland ja durchaus eine konstruktive Rolle spielen, wie 2015 das Zustandekommen des Atomabkommens mit Iran gezeigt hat, an dem die deutsche Außenpolitik maßgeblichen Anteil hatte.
Wem diese - unvollständige - Analyse nun als zu pessimistisch erscheint, dem sage ich: Erst die klare Diagnose ermöglicht eine erfolgreiche Therapie. In den drei Themenbereichen ist es spät, aber noch nicht zu spät. Gelingt es, für die Herausforderungen schlüssige Konzepte zu entwickeln, die sich ebenso auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens stützen wie auf politischen und ökonomischen Handlungswillen, besteht Anlass zum Optimismus. Voraussetzung dafür ist aber eine offene und ehrliche Analyse. Um es mit den Worten der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zu formulieren: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“
Wer, wenn nicht die dreifarbige neue Ampelregierung hätte die Kraft, den Menschen auch schmerzhafte Wahrheiten zuzumuten? Dass die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft dazu den nötigen Mut aufbringen, das wünsche ich uns allen für die vor uns liegenden Jahre.